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Was ist Musik Real music on real guitars by real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud

ByteFM: Was ist Musik vom 29.03.2015

Ausgabe vom 29.03.2015: Real music on real guitars by real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud

Patrioten Englands gegen die Invasion der Afroamerikaner? Nein, so weit sind wir noch nicht. Einstweilen hat der britische Pop-Ableger von PEGIDA nur einen einzigen Afroamerikaner im Visier. Sein Name ist Kanye West. Mit einer Online-Petition soll verhindert werden, dass der schwarze Produzent und Rapper West in diesem Jahr als Headliner in Glastonbury auftritt. Das Festival of Contemporary Performing Arts im englischen Südwesten fand 1970 zum ersten Mal statt, noch ganz im Hippie Spirit. Inzwischen ist es eins der größten Rock-Festivals des Planeten, an die 200.000 Leute pilgern Ende Juni für drei Tage auf die Farm des Milchbauern Michael Eavis, der sich die künstlerische Leitung des Festivals seit 1999 mit seiner Tochter Emily teilt.
Wer kommt nach Glastonbury? Wer wird Headliner? Alle Jahre wieder werden diese Fragen mit einer Inbrunst diskutiert als ginge es um wirklich weltbewegende Dinge wie einen Wechsel von Lionel Messi zu Sheffield Wednesday oder eine neue Brust-OP von Katie Price.
Wer also wird diesmal die Nachfolge Neil Young, Bruce Springsteen, U2, The Who und den Rolling Stones antreten, alles Headliner der vergangenen Jahre. Okay, es waren nicht nur weiße Männer im Rentenalter, 2010 trat Stevie Wonder auf, ein Jahr später Beyoncé.
Nun also Kanye West. “Cancel Kanye West's headline slot and get a rock band!” Das fordert eine Petition, die ein gewisser Neil Lonsdale ins Leben gerufen hat (keine Namenswitze hier, auch wenn´s schwerfällt. Lonsdale ist ein bei rechten Skinheads beliebtes Klamottenlabel. Die tragen ihre Jacke offen über einem LONSDALE-Shirt, so dass dem Betrachter nur die Buchstaben NSDA ins Auge fallen). Pro Tag unterschrieben anfangs rund 20.000 Leute Lonsdales Aufruf, inzwischen hat das Tempo nachgelassen, Stand jetzt, 28.3., 16.17 Uhr, sind es 131.784 Stimmen auf https://www.change.org/p/glastonbury-festival-cancel-kanye-west-s-headline-slot-and-get-a-rock-band?recruiter=11676931&utm_source=share_petition&utm_medium=facebook&utm_campaign=share_facebook_responsive&utm_term=des-sm-google-no_msg.
Manche Unterzeichner beschimpfen West als „cunt“ oder als „gay fish“, andere werden grundsätzlich: „Glastonbury Festival is about classic bands, not these sorts of hip-hop artists,“ schreibt Eleanor Head aus der Grafschaft Kent und erklärt, dass ein “frauenverachtendes, selbstsüchtiges, rassistisches und arrogantes Wesen wie Kanye West“ dort fehl am Platz sei. Interessant ist der Rassismusvorwurf, ist West doch einer der wenigen schwarzen Superstars, die ihre Popularität zu politischen Interventionen nutzen. "George Bush interessiert sich nicht für Schwarze", schrie West 2005 bei einem Benfiz-Konzert für die Opfer von Hurrikan Katrina: „Die Regierung versucht den Schwarzen so langsam wie möglich zu helfen, je ärmer sie sind, desto langsamer.“ In den vergangenen Monaten kritisierte West bei spektakulären Auftritten mehrfach die tödlichen Übergriffe weißer Polizisten gegen schwarze Männer in den USA. Offenbar spielt die Hautfarbe auch beim Kulturkampf um Glastonbury eine Rolle. “What the fuck I’m no racist”…mit diesen Worten beginnt ein vielsagendes Statement, man kennt die „Das wird man doch noch sagen dürfen“-Rhetorik von den Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA): „Ich bin verdammt nochmal kein Rassist, aber…Glastonbury’s a white festival for real music on real guitars by real blokes in real jeans to real people singing along real choruses drinking real pints of real lager standing in real mud.”
Ganz schön viel real. Da wird mal wieder die Authentizitätskarte gespielt, echte Musik von echten Kerlen auf echten Instrumenten, dazu echtes Bier und echter Schlamm, das Gegenbild zu „diesen HipHop-Artisten“ mit ihrem neumodischen, künstlichen Schnickschnack. Sampling, Autotune, der ganze Scheiß. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt des Realen.
„You make me feel mighty real“ von Sylvester, der Gay Black Diva, gecovert von Jimmy Somerville, „Got to be real“ von Cheryl Lynn und „Real people“ von Chic, gleich drei Disco-Klassiker tragen das real im Titel. Sie verorten die Realness unter der Discokugel: nur dort, an diesem geschützten Ort, können wir real sein, sagen diese Songs. Wir, die Nichtmänner, die Nichtweißen, die Nichtheteros, die Uneindeutigen. Wie seine Enkelin, die House Music, war Disco der Soundtrack derjenigen, die que(e)r stehen zur weißen, heterosexuellen Norm, und deswegen wird Disco wie House von Repräsentanten der weißen, heterosexuellen Norm abgelehnt: unnatürlich, künstlich, un-real.
Manchmal schlägt die Ablehnung in Aggression um, so 1979 bei der Disco Demolition Night. Im Vorprogramm eines Baseball-Spiels der Chicago White Sox im Comiskey Park türmten aufgeheizte Rockfans Tausende von Disco-Platten zu einem Scheiterhaufen und brachten das Ganze zur Explosion. Vielleicht gibt es ja ein déjà-vu, diesen Sommer in England.
Glastonbury ist ein weißes Festival, behaupten die Anti-West-Aktivisten, es ist der Tenor einer Bewegung, die Rock als genuin weiße Musik für sich beansprucht. Ein geschichtsrevisionistischer Treppenwitz erster Güte, wenn man nur mal bedenkt, was etwa die Rolling Stones der Musik des schwarzen Amerika zu verdanken haben. So ziemlich alles, Bandname inklusive, der stammt aus einem Song von Muddy Waters.


Extended Version eines Textes, der in dieser Woche in der SZ erschienen ist

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Playlist

1.  The Roots / Black Rock ft Dice Raw
Black Rock / Universal
2.  Kanye West / Black Skinhead
Yeezus / Universal
3.  Chambaland / Personal Yeezus ( Kanye West + Depeche Mode )
Personal Yeezus ( Kanye West + Depeche Mode ) / Soundcloud
4.  Kanye West / Love Lockdown
808s and heartbreak / Universal
5.  Mos Def / Rock´n´Roll
Black On Both Sides / Rawkus
6.  Bo Diddley / I´m bad
Early Rappers / Trikont
7.  Bad Brains / Rock For Light
Rock For Light / Line
8.  Funkadelic Who says a funk band can´t play rock / Funkadelic Who says a funk band can´t play rock
One Nation Under A Groove / Warner Brothers
9.  Kanye West / P ower
Power / Universal
10.  King Crimson / 21st Century Schizoid Man
In The Court Of The Crimson King / EG
11.  Sylvester / You You make me feel mighty real
You You make me feel mighty real / CBS
12.  Cheryl Lynn / Got To Be Real
Got To Be Real / WB
13.  Chic / Real People
Real People / Atlantic