Neue Platten: Einstürzende Neubauten – „Lament“

Cover des Albums Lament von Einstürzende NeubautenEinstürzende Neubauten – „Lament“ (BMG Rights Management)

9,3

Ganz langsam nähert es sich, das sich ins Gehör beißende Quietschen und Schleifen und das bedrohliche Brodeln im Hintergrund, das klingt wie das amplifizierte Lodern eines Feuers. Bis sich alles in einem langgezogenen Männerschrei entlädt. „Kriegsmaschinerie“, der erste Song des neuen Albums der Einstürzenden Neubauten, katapultiert die Hörer direkt ins Geschehen. Diese Schreie, sie stammen womöglich von Soldaten, die in ihre erste Schlacht ziehen, infiziert von Zerstörungswut und fehlgeleiteter Kriegsromantik.

„Lament“ ist eine Art musikalische Erzählung über den 1. Weltkrieg, die von der Situation vor dem Ausbruch aus Sicht der Stadt Diksmuide handelt. Die belgische Stadt hatte die Band anlässlich des 100. Jahrestages offiziell beauftragt. Der Sänger Blixa Bargeld sagte im Vorfeld in einem Interview, es sei kein reines Neubauten-Album geworden, sondern ein Auftragswerk. Doch „Lament“ ist mit seiner charakteristischen Geräuschlastigkeit bei gleichzeitigem Popappeal und vor allem den nicht selten ins Absurde rutschenden Brüchen eigentlich genau das: ein neues, sehr zeitgemäßes Album von den Industrial-Pionieren.

Es ist ein schöner Zusammenzuck-Effekt, wenn zu Beginn des zweiten Songs plötzlich ein Männerchor in der Melodie von „God Save The Queen“, der englischen Nationalhymne deutsch-patriotische Zeilen schmettert: „Heil dir im Siegerglanz, Herrscher des Vaterlands, God save the king“. Das kalkulierte Unbehagen, das solche Signalwörter auslösen, ist seit jeher eines der Leitmotive der Band, deren Musik immer schon teutonische Ästhetiken und gelegentlichen Dadaismus verband. Wie etwa im Song „The Willy – Nicky Telegrams“, das mit seinem vordergründigen Autotune-Gesang so klingt, als führe im Moment des Hörens ein schwarz lackierter BMW mit dem neuesten US-Shit vorbei.

Der Ausflug in die aktuelle Poplandschaft wird beantwortet von der konzeptuellen „Lament“-Trilogie, die mit einem meditativ-bedohlichen Dronestück beginnt, in dem ein verfremdeter Chorgesang die anstehende Apokalypse anzukündigen scheint. Das darauffolgende „Lament: 2. Abwärtsspirale“ erinnert mit seinen metallischen Schlägen und spannungsgeladenen Glissandi an die frühen Neubauten. Das Stück teilt das Album gleichzeitig in zwei Hälften und ist eine Art musikalisch-mathematisch Studie, wie den Linernotes zu entnehmen ist. So fallen die Töne darin spiralförmig ab, basierend auf einem Muster, das aus den einzelnen Zahlen des letzten Kriegsjahres besteht: 1-9-1-8.

Die Songs der Einstürzenden Neubauten waren immer schon auch musikgewordenes Storytelling. Auf „Lament“ haben sie das perfektioniert wie nie zuvor. In „How Did I Die?“, einem paranoiden Trip durch eine postapokalyptische Landschaft, fragt sich eine Stimme im Angesicht einer zerstörten Welt:

„How did I die? Or didn’t I?“, und evoziert dabei düstere Bilder: „A strip of murdered nature, it seems like it belongs to another world, every sign of humanity has been swept away, the woods and roads have vanished like chalk“.

Was die Texte so besonders macht, ist ihre Ambivalenz und ihr Mut, wie im Fall von „God save the queen“, auch die falschen, die gescheiterten Perspektiven einzunehmen, ohne dabei in einen revisionistischen Pathos eines Ernst Jünger oder eine hyperreflektiv-postmoderne Metaebene zu verfallen.

„Ich weiß inzwischen, und das ist ja gerade heute sehr wichtig, dass Krieg nicht einfach kommt und wieder verschwindet. Krieg bricht nicht aus wie eine Seuche. Er ist immer präsent“, sagte Blixa Bargeld in Bezug auf das Album. Und genau das gelingt der Band mit „Lament“. Einen alternativen Raum zu öffnen, in dem das Schreckliche im Schönen, aber auch das Schöne im Schrecklichen Platz hat.

Label: BMG Rights Management
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