Radiohead – „OK Computer“

Von soerennikolaus, 16. Juli 2012

Radiohead - OK ComputerVÖ: 13.06.1997
Web: radiohead.com/
Label: EMI

Im Juni 1997 erschien Radioheads 90er-Jahre-Opus „OK Computer“ und machte sie zur größten Band der Welt. Es markierte einen riesigen Schritt in der Entwicklung der Band und ist von besonderer Relevanz, weil es perfekt in seine Zeit passte und doch weiterhin aktuell bleibt. Zum 15. Jubiläum widmen wir dem Meisterwerk in dieser Woche besondere Aufmerksamkeit.

„In a city of the future / It is difficult to find a space / I’m too busy to see you / You’re too busy to wait“, sang Thom Yorke in „Palo Alto“, einem Stück aus den Sessions zu „OK Computer“, das den Cut nicht überstanden hat. Ursprünglich hieß „Palo Alto“ „OK Computer“ und war damit das titelgebende Stück des Überalbums von 1997.

Auch wenn der Ort Palo Alto in Silicon Valley, Keimzelle der New Economy und noch immer Heimat des Apple-Konzerns, heute mit Sicherheit einer deutlich größeren Öffentlichkeit ein Begriff sein wird, als es damals der Fall war: Die Referenz wird so oder so klar. Die steigende Computerisierung im Informationszeitalter führt aufgrund begrenzter menschlicher Kapazitäten (des beschränkten Bewusstseins) zu einer Überforderung. Die Technik ist Multiplikator der Mensch-eigenen Fähigkeiten. Und was zunächst riesige Potenziale birgt, wird alsbald zurückgeschleudert. Wie die Wurzeln eines Baumes werden die Verbindungstränge von der schieren Informationsmenge unterspült. Das war vor dem Durchbruch des Internets, vor Google, vor Napster. Apple stand vor dem Konkurs, es war vor dem iPod, vor iTunes, vor Smartphones und lange vor Facebook.

„The Bends“ erschien 1995 und bescherte Radiohead nicht nur den kommerziellen, sondern auch künstlerischen Durchbruch. Die Vorbehalte der Band gegen Stagnation und bloßer Entsprechung der Erwartungen äußerten sich schon auf diesem Album („My Iron Lung“), und diese Ruhelosigkeit kann wohl auch als Antrieb für „OK Computer“ gesehen werden. So ist es zu erklären, dass sich die Band komplett mit eigenem Equipment eindeckte und in eine Art mobiles Studio investierte. Was ihnen wiederum ermöglichte, sich auf’s Land zurückzuziehen, um der gewohnten Umgebung und den damit verbundenen Einflüssen zu entgehen. Nicht nur die Abgeschiedenheit und die Aufnahmeorte hatten Einfluss auf den Klang von „OK Computer“, auch die Instrumentierung ist maßgeblich von der Entscheidung für die Unabhängigkeit beeinflusst. Die Aufnahmen starteten 1996 in „Canned Applause“, einer zum Studio umgebauten Hütte ohne fließend Wasser und Toilette. Wobei sich die widrigen Umstände bald negativ bemerkbar machten und man sich für einen weniger radikalen Ort, den Landsitz St Catherine’s Court, entschied. Die Band experimentierte mit Raumklang und starken Variationen in der ihrer eigenen Instrumentierung. Dabei hatten sie ganz spezielle Vorstellungen von der Atmosphäre des Albums und wie es zu klingen hatte. Sie orientierten sich am dichten Sound der großen Jazz-Fusion-Alben von Ende der 60er-Jahre und bedienten sich dabei bei Strukturen und Elementen der elektronischen Avantgarde. „Airbag“ eröffnet das Album mit einem zwar von Phil Selway eingespielten, aber später programmierten Drum-Loop. Eine Hommage an DJ Shadows Sampling-Meisterwerk „Entroducing…..“. Der Hall, der Thom Yorkes Gesang in „Exit Music (For A Film)“ begleitet, ist dem steinernen Treppenhaus zu verdanken, in dem es aufgenommen wurde. Einfach unglaublich, die klaustrophobische Stimmung in „Climbing Up The Walls“, mit den metallischen Drums, dem gefuzzten Bass und Johnny Greenwoods unglaublichem Streicherarrangement, welches Yorkes verzerrten und fast schon zu Staub zerfallenden Gesang so eindringlich akzentuiert. Dazu die Reverb-Gitarren und der verstörende Raum – durch die elektronischen Verzerrungen und das ständige „Flirpen“. „And either way you turn. I’ll be there“ – alles scheint sich zusammenzuziehen. Wenn man auch nach 15 Jahren noch einen Song aus der Gesamtheit dieses Albums hervorheben will, dann ist es dieser.

„Ok Computer“ stellt einen wichtigen Schritt Radioheads auf ihrem Weg in Richtung Postmoderne dar. Es hinterfragt – sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der künstlerischen Ebene – vergleichbar vorsichtig, löst sich dabei aber nicht komplett von seinen Wurzeln. Auch wenn es kritisiert, bricht es doch nicht ganz mit der Vergangenheit. Am Ende wirft es mehr Fragen auf, als es zu beantworten vermag. Eigentlich geht es sogar viel weiter: Es verweigert sich gezielt der Beantwortung jeder Frage. Es tut sich ein doppelter Boden auf, wenn man „OK Computer“ hört. „Paranoid Android“, der gefeierte Ersteindruck des Albums, wird von der Band im Nachhinein immer wieder als Witz bezeichnet. Der Prozess der Entstehung des Progrock-Experiments schien für die Beteiligten geradezu absurd. So äußerte sich Colin Greenwood in Marc Randalls Radiohead-Biografie „Exit Music“ wie folgt: „[We] felt like irresponsible schoolboys who were doing this … naughty thing, ‚cause nobody does a six-and-a-half-minute song with all these changes. It’s ridiculous.“ Der Titel gilt als Anspielung auf Marvin, den unfreiwillig komischen, depressiven Roboter aus Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“. Er ist als Antwort auf den Vorwurf des Selbstmitleids zu verstehen, der auf das sehr persönliche und emotionale Vorgängeralbum „The Bends“ folgte. Aber dieser gewollten Abgrenzung, dem Auslassen der persönlichen Motive, liegen doch gerade persönliche Motive zugrunde. Yorkes Texte auf „OK Computer“ beschäftigen sich immer wieder mit der Rolle des Individuums in der sich wandelnden Gesellschaft. Obwohl einzelne Passagen diesen Wandel aus einer sehr persönlichen Perspektive begleiten, sind die Themen an sich eigentlich gar nicht persönlicher Natur. Der Kniff, Alltagsphrasen und Schlagworte aufzugreifen und in den Kontext des persönlich Erlebten zu stellen, funktioniert hervorragend. Es passt so grandios in die Zeit der „Icons“ und der „Slogans“. In die Zeit, in der die Marke zu Mainstream wurde. „Fitter Happier“ bringt das alles überragend auf den Punkt. Eine kühle Beobachtung, und doch höchst subjektiv. „Concerned (but powerless).“ Auch hier befindet sich die Band eher auf dem Weg in Richtung einer späteren abstrakten Ebene. Die Betrachtung ist nicht losgelöst, es gibt eigentlich keine Distanz. Auf „OK Computer“ findet man noch kein „Idioteque“. Die bekannteste Geschichte ist vermutlich der nachhaltige Einfluss einer Barszene in Los Angeles, in der eine „Schönheit“ auf Koks ausfallend wurde – Inspiration für die Zeilen: „Ambition makes you look pretty ugly / Kicking and squealing Gucci little piggy“ aus dem bereits erwähnten „Paranoid Android“. Dem scherzhaften Versuch, der zur Perfektion getrieben wurde. Ehrgeiz ist eben auch der Ursprung eines jeden Wertes.

„Don’t get sentimental, it always ends up drivel“ – wieder eine Alltagsphrase. „Let Down“ steht beispielhaft für die Antinomie gesamten des Albums. Die Hoffnung auf den Fortschritt als Lösung der Probleme wird jäh zerstört, von dem Gefühl Bedeutungslosigkeit einer Existenz im anonymen Raum. Und doch folgt keine Resignation. Es bleibt Hoffnung. „And one day, I am gonna grow wings.“ Die Frage ist nun: Ist der offene Umgang mit Emotionen angebracht, oder ist das Gros der Emotionen nur noch bloße Sentimentalität? Ist in einer funktionierenden Gesellschaft Platz für die offene Konfrontation? Wenn alles und jeder nur noch an einem vorbeifliegt, wem oder was öffnet man sich?

Durch seine überdauernde Aktualität ist einem die Größe „OK Computers“ in jeder Sekunde bewusst. Das Album stellt den vorläufigen Höhepunkt von Radioheads Werk dar. Es ist die an den Rand getriebene Evolution ihres Sounds. Die Revolution sollte erst noch folgen.

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Jeden Tag von Montag bis Freitag spielen wir im ByteFM Magazin zwischen 10 und 12 Uhr einen Song aus unserem Album der Woche. Ebenso im ByteFM Magazin am Nachmittag zwischen 15 und 17 Uhr und im ByteFM Magazin am Abend ab 19 Uhr. Die ausführliche Hörprobe folgt am Freitag ab 13 Uhr in Neuland, der Sendung mit den neuen Platten.

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