Sich eine Auszeit nehmen – das Immergut Festival 2014

Vorm Birkenhain im Camp Auszeit (Foto: Niklas Wolter)Vorm Birkenhain im Camp Auszeit (Foto: Niklas Wolter)

Tiere streicheln Menschen, Mozes And The Firstborn, Lana Del Reys Duckface auf dem Cover des neuen Intro, es ist Freitagabend, das Immergut Festival hat begonnen. Bereits in der 15. Runde befindet es sich dieses Jahr (30. und 31. Mai) und schreibt sich mutig „Camp Auszeit“ auf die Fahnen, beziehungsweise auf die selbstgenagelten Tore zum Camp- und Festivalgelände.

Die Freitagabendsonne steht über der Szenerie, beleuchtet ästhetisch eindrucksvoll die drei Bühnen, Burgerstände und die Baumwipfel, die alles umrahmen. Und kitzelt die letzten Blumenflechtfrisuren heraus. Nach zwei Tagen „ergiebigem Dauerregen“ (Wetterwarnung) und 14 Grad Maximaltemperatur neigen die Festivalbesucher dazu, dies als Zeichen für die kommenden zwei Abende zu deuten.

Bereits zuvor hatten zwei Autoren gelesen, denn das gehört auch zum Immergut Festival – ein in großen Teilen ehrenamtlich organisiertes Festival, lokalisiert irgendwo im südlichen Mecklenburg-Vorpommern in der Nähe zur Grenze von Brandenburg. Dort wird nicht nur Musik gespielt und dem Camperdasein gefrönt, man kann auch auf dem Boden sitzend Popkultur im geschriebenen Wort lauschen. Dieses Jahr: Sven Regener mit seiner neuesten Herr-Lehmann-Fortsetzung, der Intro-Autor Felix Scharlau mit Beiträgen zum verdrogten Vinyl-Auflegen und Paul Bokowski, Autor eines Backblogs. Die Mischung macht’s.

Die Mecklenburgische Seenplatte, in der das Ganze stattfindet, hingegen macht, dass die Sich-eine-Auszeit-Nehmenden zwischen ganzen sieben in der Nähe des Geländes liegenden Seen wählen können – nur die gezählt, die der Festivalratgeber nahelegt. Vom „blühenden Tal“ über Freikörperkultur bis hin zu „gralklarem Wasser und ewiger Jugend“ ist da alles dabei und gehört für die nur knapp 5000 Besucherinnen und Besucher zum Immergut-Erlebnis wie das Musikprogramm. In den 5000er-Festival-Maßstäben bringen einen eine Ein-Waggon-Bahn, das Fahrrad oder die Füße schließlich innerhalb kürzester Zeit überall hin.

Auch Pia Volk teilt in der taz in einem Artikel über ein anderes Kaliber Musikfestival, das Primavera in Barcelona, die Beobachtung, die man auf vielen Festivals – jedweder Größe – in den letzten Jahren machen kann: „Längst reist man nicht mehr hin, um sich die Musik anzuhören, sondern um ein paar Tage Urlaub von der Realität zu machen. Wichtig ist nicht die Inszenierung auf der Bühne, sondern die davor.“ Im Falle des Immerguts heißt das aber nicht nur Blumen im Haar, Tierkostüme und Glitzer im Gesicht, sondern auch sich vom Headliner-Denken und statussymbolhaften Konzerten zu entfernen und einfach gemeinsam eine entspannte Auszeit an der Seenplatte zu haben.

Die musikalische Untermalung dessen, eher abends als nachmittags, ausschließlich nach- und nicht nebeneinander, ausgewählt aus den persönlichen Favoriten der Mitglieder des das Festival organisierenden e. V.s, ist ein überschaubares Line-up, das sich nicht viel um Hipness und Headliner schert, dafür Qualität bieten will. Nachdem Mozes And The Firstborn die größte der drei Bühnen eröffnet hatten, konnte man noch unter anderem All The Luck In The World, Lucy Rose, Wye Oak, Real Estate, Girls In Hawaii, Slut, Die! Die! Die!, Cloud Nothings und FM Belfast sehen.

Eine kleine Auswahl besonderer musikalischer Eindrücke:

Feine Sahne Fischfilet: „Hast du Ideen oder haben Ideen dich?“, ruft der Sänger der Band, dessen Fotograf gerade den Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich verklagt hat. Im Bericht der Behörde taucht die Band seit 2011 auf, weil sie sich in einer Gegend, wo der „rechte Arm locker“ sitze, so Sänger Monchi im Interview, gegen Rechtsextremismus positioniert. Das Immergut liegt nicht weit von den Herkunftsstädten der Band. So ist der pogende Pulk in der Mitte textsicher und wirft die Arme in die Luft, alle anderen staunen, am nächsten Tag ist die Dichte von Turnbeuteln mit dem Schriftzug des Bandnamens nicht zu übersehen.

Judith Holofernes: Man mag vom neuen Album der ehemaligen Sängerin von Wir sind Helden halten, was man mag. Klar ist, Judith Holofernes kann unterhalten und ganz hervorragend texten. Ihr Wort ist mittlerweile zwischen Journalismus, Kreuzberger Kurzgeschichten und Tiergedichten angelangt, auf der neuen Platte benutzt die zweifache Mutter jedoch gerne „Lieb-lieb-piep-piep“-Reime. Wenn sie es schafft, dass die zahlreich erschienenen Immergutler auf ebenjene Textgewalt tanzen und glitzerbemalte Hippiemädchen inbrünstig dazu performen: Hut ab. Auf der Bühne vorbeigeschaut für ein paar „Peng Peng!“-Rufe hat übrigens auch Tobias Jundt, der mit seiner Band Bonaparte später am Abend auftreten sollte.

Hundreds: Das Geschwisterduo Eva und Philipp Milner alias Hundreds hat einen späten Freitagabend-Slot bekommen und beginnt kurz nach zehn. Sie spielen Stücke aus ihrem ersten Album und dem im Frühling erschienenen „Aftermath“ in elektronischerem Gewand als auf den Aufnahmen. Die Düsterheit und teilweise Aggressivität der elektronischen Instrumentierung steht dabei in Kontrast zur Wärme von Eva Milners Stimme. So werden Dissonanzen gesetzt und aufgelöst, Unwohlsein geschaffen und wieder warm verdrängt. Spätestens bei „Ten Headed Beast“, wenn das Publikum in goldenem Licht angestrahlt wird und der Gesang anhebt, ist die vorhergegangene Stroboskoplicht-Phase mit dunklen, technoiden Bässen fast wieder vergessen. Insgesamt erscheinen die live zu dritt spielenden Hundreds viel brachialer und tanzbarer als von ihrem aktuellen, oft fragilen Album erwartet. Evas Tanz in einem weißen Gewand ist ebenso überraschend wie fesselnd. Auch die Band freut sich: Vor fünf Jahren haben sie eines ihrer ersten Konzerte hier gespielt, erzählt Eva, um 16 Uhr nachmittags. Der diesjährige Auftritt wäre um die Uhrzeit nicht denkbar, die größte Stage des Festivals sammelt viele um sich, die Musik braucht die blaue Dunkelheit des verbleibenden Tags. Wahrscheinlich ein Highlight des Festivals.

Oum Shatt: Samstag, halb fünf. Verschlafene, verkaterte, angebadete Festivalmenschen sitzen auf Decken, Jacken und anderen Kleidungsstücken vor dem „Birkenhain“, der kleinsten Bühne. Die dreiköpfige Band aus Berlin macht interessante Musik, die was mit Indie und retrohaftem Rock’n’Roll zu tun hat. Ihre Selbstbeschreibung spricht von arabischen Anklängen, „a deep and dark analog dance construct, percussive and nonchalant“. Ist immer schwierig, etwas, das ungewohnt ist, zu beschreiben. Eben darum klingt die Band aber auch so interessant. Oum Shatt – ein Geheimtipp vielleicht.

Rah Rah: Die sechsköpfige Band aus Saskatchewan in Kanada ist jugendlich vergnügt und lässt alle Bandmitglieder mal an alle Instrumente. Sie haben die Bandbuchstaben R, A und H, die auch in ihrem aktuellen Video auftauchen, in großen silbernen Luftballons dabei und spenden sie dem Publikum, welches sich kreativ in der Wortbildung damit zeigt, bis sich einer das H unter den Nagel reißt. Ar!

Future Islands: Wer den Sänger der Band, Samuel T. Herring, der übrigens auch rappt, auf Platte dramatisch findet, muss sich anstrengen, ein steigerndes Adjektiv für die Live-Performance zu finden. Die Synthies streiten sich mit den Drums um den größten 80er-Jahre-Anklang, während Samuel T. Herring sich komplett in seine Performance begibt: Er schlägt sich auf die Brust, ballt die Faust, streicht einem imaginierten Gegenüber durchs Haar. Die gefühlt halb so alte erste Reihe röhrt er an wie ein Elch, deutet auf einen Punkt in der Ferne und zieht sich eine nichtvorhandene Maske vom Gesicht. Der Rest der Band, eigentlich nur Bass und Keys, für die aktuelle Tour aber durch einen Drummer ergänzt, schafft es hingegen in gleichem Maße desinteressiert zu gucken und zum Abschied gerade mal zu zwei Dritteln die Hand zu heben. Herring hat alle Gesten aufgebraucht. Die Band lässt sogar so weit ausflippen, dass das Publikum nicht direkt nach dem letzten Akkord zum nächsten Act rennt, sondern weiterapplaudiert und -schwitzt. Future Islands spielen eine Zugabe – beim straff geplanten Festivalzeitplan eine große Überraschung: „Don’t wanna mess up the schedule“, begrüßt Herring das Publikum zurück und wirft sich in Gogo-Tanz und Rückbeugen. Großartig.

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