Dirty Projectors – "Swing Lo Magellan"

Dirty Projectors - VÖ: 06.07.2012
Web: dirtyprojectors.net
Label: Domino

Eine Menschenmenge. Der Blick jedes Einzelnen hat das gleiche Ziel. Die offensichtliche Verbildlichung der Konformität, der absonderlichen Gleichgestimmtheit hinter dem kapitalistischen Individualismus, des Konsumismus als Folge einer Sehnsucht nach Distinktion ist eine 3D-Brille. Ein vergängliches Accessoire, um den effekthascherischen Drang der Massen zu befriedigen. Eine vorgelagerte, platte Ebene, die Tiefe suggeriert. Es ist ein irreführender Tiefgang. Eine Täuschung. Ein Schmu. Ein Fraud. Das Foto der Kinobesucher mit den 3D-Brillen ziert das Cover der amerikanischen Version von Guy Debords erschütternder Kritik an dem, was 1968 aus der westlichen Zivilgesellschaft geworden war, an der westlichen Kultur, es ziert sein Hauptwerk „Die Gesellschaft des Spektakels“.

David Longstreth, der konstante Leuchtturm und Hauptantrieb hinter den Dirty Projectors, hat sich zurückgezogen für dieses Album. In ein abgelegenes Haus im ländlichen Delaware County (auf dem Cover ist der Nachbar Gary zu sehen). Die restlichen Bandmitglieder schauten von Zeit zu Zeit vorbei und teilten ihre Ideen. Debords‘ Werk diente als Inspiration. Trotzdem ist es kein politisches Album, zumindest nicht mehr, als Longstreth eben selbst von politischen Fragen getrieben wurde. Es ist ein persönliches Album. Das Album besitzt kein übergeordnetes Thema, keine spezielle Richtung. Vielmehr findet es auf einer Metaebene statt. Ein Album bestehend aus Songs, und auf eine ungewöhnliche Weise handelt dieses auch davon wie es ist, diese Songs zu schreiben. Persönliche, sehr direkte Stücke (Das selbstzweifelnde „Irresponsible Tune“) stehen abstrakten Hüllen (Das Koordinatensystem „Swing Lo Magellan“) gegenüber.

Mensch, was der Kontext doch für eine Rolle spielt. „Bitte Orca“, die Wundertüte aus dem Jahr 2009, riesiger Rucksack voller „Weirdness“ und unglaublicher Ideen, ein Erfahrungschatz aus eindringlichem Folk, leuchtender Weltmusik und gefühlvollem RnB, stieß praktisch alle Türen auf. Longstreth schien nun alle Möglichkeiten zu haben. Und er wurde geliebt für das, was er machte. Josh Triangle vom Time Magazine beispielsweise sagte, dass Longstreth den Job eines Kritikers zu einer Unmöglichkeit verkommen ließe, schließlich sei dieser ja, die Musik zu beschreiben. „Bitte Orca“ führte bei Grizzly Bears Ed Droste mal zu ähnlichen Schwierigkeiten, als er in einem Interview das Album beschreiben sollte, das ihn so nachhaltig begeisterte. Jetzt also ein sehr viel songbasierteres, klassischeres Album. Es sieht so aus, als würde er die Kritiker damit wieder vor Schwierigkeiten stellen, wenn auch auf eine gänzlich andere Weise.

Denn es scheint sich so etwas wie eine Enttäuschung breit zu machen. Die Erwartungen sahen anders aus. Aber Weiterentwicklung kann eben auch bedeuten, geradlinigere Songs zu schreiben, die direkter, unmittelbarer wirken. Longstreth zu dieser Ursprünglichkeit: „[Swing Lo Magellan] asks a lot of questions, and it comes from that curious place, the place where you start from as opposed to the stage where you end up on.“ Auch er ist sich des schweren Rucksacks, der Rolle „Swing Lo Magellans“ als Nachfolger des gefeierten Werkes von 2009 bewusst: „‚Bitte Orca‘ was this collection of really bright, iridescent surfaces“, also ein skizzenhaftes Zusammentragen verschiedener Ideen. Eine oberflächliche Tiefe. „Swing Lo Magellan“ ist die tiefgründige Einfachheit. „It’s more like unbleached fucking leather, or untreated wood that’s warping in the elements.“

Man sollte nicht hereinfallen auf diesen Bluff. Dieses Album ist mehr als eine vorgelagerte, platte Ebene, die Tiefe bloß suggeriert. Es steht „Bitte Orca“ in nichts nach. So „straightforward“ es auch ist. So zugänglich die Songs sich auch geben. Es ist ein ehrlicher, ein direkter Ausdruck. Und doch gibt es etliche großartige Details. Allen voran sind da natürlich die choralen Vokalharmonien, die verschiedenen Gesangsebenen, welche die Stimmung eines Songs so wundervoll unterstreichen. Fast alle Gesangsspuren sind als One-Shot entstanden. Gleich die erste Aufnahme wurde einfach verwendet. Es sind auch unperfekte Reste, Unwägbarkeiten und Fehler, die den Prozess der Entstehung, des Musikmachens an sich dokumentieren und die Ursprünglichkeit des Albums unterstreichen. Im Eröffnungssong „Offspring Are Blank“ räuspert sich Longstreth vor seinem Gesangseinsatz, in „Unto Caesar“ fragen Amber Coffman und Haley Dekle nach ihrem Einsatz und schließlich singt Longstreth „Down the line / Dead, the martyrs‘ morbid poetry“, worauf Coffman im Studio erwidert: „Uhh, that doesn’t make any sense, what you just said.“ Kann man sich der ursprünglichen Kreativität einer Band näher fühlen? Nein. Und diese Band ist weiterhin beängstigend kreativ. So sind da zum Beispiel die atypischen Arrangements. Da ist das ständige Ausloten des Stereospektrums, da sind die ständigen Kanalwechsel, die für eine Dynamik zwischen diesen sorgen. Nun ja, und dort sitzt ja bekanntlich der Kopf. Von dort aus aber wandert es herab. Es ist mehr als ein intelligentes Popalbum. Das wird klar, wenn Amber Coffman in „The Socialites“ eine bittersüße Kritik an der oberflächlichen, hippen, städtischen Gesellschaft abliefert: „The socialites who act so nice / Won’t ever begin to let you in“ singt sie. Am deutlichsten aber wird es klar, wenn „Impregnable Question“ mit seinem geradeheraus liebreizenden Statement abschließt. „You’re my love, and I want you in my life“.

Als er die minimalistische Vorabsingle „Gun Has No Trigger“ (oder: das Gefühl der Machtlosigkeit, wenn man eigentlich anderer Meinung ist und doch keine Alternative zu haben scheint) spielte, da sagte Klaus Walter, dass die Dirty Projectors mal wieder ihrem Ruf gerecht werden würden, „der da besagt, dass sie sich immer wieder neu erfinden“, um dann gleich hinterher zu schieben, dass man die Formulierung eigentlich nicht mehr in den Mund nehmen sollte. Dabei ist es ihm nicht zu verübeln, denn schließlich ist es ja wirklich so, dass Longstreth mit seinem Projekt „immer wieder neues Terrain betritt“. Daraus macht er auch selbst keinen Hehl: „One of the things that’s been consistent about Dirty Projectors is that the band reinvents itself“, sagt er, und meint damit ganz sicher auch die ständigen personellen Veränderungen in der Band. Letztendlich ginge es darum, Risiken einzugehen, und auch immer wieder zu scheitern und die Fehler mitzunehmen. In diesem Kontext stehen Pracht und Unzulänglichkeit nebeneinander. Sie vereinen sich in Schönheit. Denn dort liegt sie, die künstlerische Relevanz.

Das ByteFM Album der Woche.

Jeden Tag von Montag bis Freitag spielen wir im ByteFM Magazin zwischen 10 und 12 Uhr einen Song aus unserem Album der Woche. Ebenso im ByteFM Magazin am Nachmittag zwischen 15 und 17 Uhr und im ByteFM Magazin am Abend ab 19 Uhr. Die ausführliche Hörprobe folgt am Freitag ab 13 Uhr in Neuland, der Sendung mit den neuen Platten.

Unter allen Freunden von ByteFM verlosen wir einige Exemplare des Albums. Wer gewinnen möchte, schreibt eine E-Mail mit dem Betreff „Dirty Projectors“ und seiner/ihrer vollständigen Postanschrift an radio@byte.fm.

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