Neue Platten: Stereo Total – "Cactus Versus Brezel"

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8,4

Brezel Göring und Françoise Cactus alias Stereo Total waren nie weg und sind trotzdem wieder da! Ihr mittlerweile 13. Studioalbum trägt den Titel „Cactus Versus Brezel“ – Nachname gegen Vorname. Der erste Song: Brezels fiepende Keyboard-Chaospad-Sounds und elektronische Gitarre wie ein Frage-und-Antwort-Spiel mit Françoise‘ Gesang. Sie singt, alle seien ganz neidisch auf ihren Erfolg („Tous sont jaloux de mon succès“) – und das dürfen die auch sein. Denn Stereo Total hat auch im 20. Bandjahr noch volle Daseinsberechtigung für poppigen Chanson-Electro-Trash.

1993 trafen sich der Deutsche Brezel Göring und die Französin Françoise Cactus in einem Supermarkt. Er spielte bei Sigmund Freud Experience, sie bei den Lolitas und war nach Deutschland gekommen, um Französisch zu unterrichten, zog dann aber lieber zu Brezel und machte mit ihm Musik. Seit der flotten Gründung vor zwei Jahrzehnten, die man ihnen kaum ansieht, veröffentlichten die beiden 13 Alben, die sie mit einigen Singles, Videoproduktionen und ausgedehnten Touren unterstrichen. Dabei blieben sie ihrem Stil der deutsch-französischen Weltfreundschaft, feministisch, punkig, nie unpolitisch, immer treu. Ihre Alben haben sie unter Umständen gerne für verschiedene Märkte in verschiedenen Versionen und Sprachen aufgenommen, was ihnen Touren durch alle Kontinente und größere Erfolge unter anderem in Lateinamerika und Japan einbrachte. In ihrem Zeitmanagement blieb daneben immer noch genug Zeit für weitere Projekte medienübergreifender Kunst. Man findet sie auf Lesungen und Ausstellungen, Brezel besonders als Videokünstler und Theaterspezialist, Françoise als bildende Künstlerin. Vor wenigen Jahren wurde Françoise‘ „Wollita“ – eine lebensgroße, nackte Wollpuppe – rasant bekannt, besonders dank der unfreundlichen Kampagnen zweier Berliner Boulevardblätter, und bekam sogar eine Biografie: „Wollita – Vom Wollknäuel zum Superstar“.

Auf dem neuesten musikalischen Werk der beiden in Berlin lebenden Künstler geht es nach dem erfolgsbewussten Einstiegssong mit einem englischen Stück weiter. „Pixelize Me“ könnte ein Ohrwurm werden, das fast in zurückhaltender Manier auf die typischen Stereo-Total-Störgeräusche verzichtet, aber trotzdem ein klassisches Françoise-Brezel-Chanson ist. Die spätestens ab dem dritten Song wieder in ihrem ganzen Möglichkeitsspektrum erscheinenden Geräusche und Zwischentöne werden auf den ziemlich empfehlenswerten Konzerten mit einer Vielzahl verschiedenster elektronischer und analoger Instrumente erzeugt, von denen die eine Hälfte für den elektronischen Laien aussieht, als könnte sie gar nicht beherrscht werden, die andere stark nach Kinderzimmer-Equipment.

Damit machen sie auf der Platte wie auf der Bühne verspielten Lo-Fi-Chanson-Electro-Indie-60s-Beat, geprägt von der erwähnten Instrumentenvariation mit hohem Verwirrungspotenzial. Dies alles ist getragen von Françoise‘ herrlichem Gesang, kürzlich erst „immer noch so herzerweichend, als sei sie frisch verliebt“ genannt. Inhaltlich geht es in den 15 Songs auf „Cactus Versus Brezel“ um Alice Schwarzer, Vegetarier („Heute Morgen verlasse ich das Haus / die Leute sehen wie Gemüse aus“), um die Vorzüge der Synthetik für die Musik und um die Gefahren von „LA, CA, USA“. Das zuletzt genannte Lied ist schon von ihrem 1997er Album „Monokini“ bekannt und vielleicht wurde die Band an dessen expressionistischen Inhalt („Es ist eine Selbstmordstadt / die moderne Hölle, ein Monster / ein großer Friedhof, hol mich ab / Bete für mich, Mama“) erinnert, als sie in L.A. mit Gus Seyffert (Bass für die Black Keys und Songwriting für Lena Meyer-Landrut) ihr Album aufnahm.

Nach dem fast etwas langweiligen Vorgänger „Baby Ouh!“ aus dem vorletzten Jahr, haben Stereo Total mit „Cactus Versus Brezel“ ein tolles Album aufgenommen, das großen Spaß macht. Die traumhaften Textzeilen, wegen derer viele sich dieser Band angeschlossen und verschworen haben, sind auch hier vertreten. Ob die aber an so große deutsche, fast aphoristische Weisheiten wie „Hush, hush, sweet Charlotte / wie schön du geworden bist / deine Nase sieht immer noch wie eine Gurke aus / aber wie du lächelst“ oder „Ich bin nackt / der Nachbar steht am Fenster / reg dich nicht auf / kauf mir ein neues Kleid“ herankommen, muss man sich noch überlegen. Auch singt Brezel äußerst wenig mit, was er trotz seines eigentlich anderen Verantwortungsbereichs auf anderen Veröffentlichungen gerne tat („Stricherjunge mit der Raucherlunge“). Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es mehr englische und französische Texte auf diesem Album gibt. Ist Françoise es etwa Leid geworden, auf Deutsch zu singen? Oder reicht nach fast 20 Jahren, 13 Alben und vermutlich hundert Liedern auf Deutsch das, was man schon hat? Baby, ouh, das würde aber auch das Existenzrecht von Stereo Total betreffen, denn so viel Neues bieten die beiden nicht. Aber, nein! Françoise und Brezel sind großartig und sympathisch wie eh und je – bitte immer mehr davon!

Label: Staatsakt | Kaufen

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